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30.08.2008 GA

Neue Berufsbilder geschaffen

GA-Interview mit llka Burkhardt-Liebig, der neuen Schulleiterin der Berufsbildenden Schulen Lüchow

Ilka Burkhardt-Liebig ist seit einem Jahr die neue Schulleiterin der Berufsbildenden Schulen in Lüchow. General-Anzeiger (GA) sprach mit ihr über Chancen und Anforderungen an Schüler, Schulen und Ausbildungsbetriebe. Die Fragen stellte Björn Vogt.

GA: Frau Burkhardt-Liebig, Sie sind seit einem Jahr Schulleiterin der BBS Lüchow. Was haben sie vorgefunden, was haben Sie seitdem verändert, und was wollen Sie weiter ändern?

Ilka Burkhardt-Liebig: Als ich vor einem Jahr an den BBS Lüchow Schulleiterin wurde, gab es sehr viele kleine Klassen im Bereich der dualen Ausbildung und Probleme mit der Lehrerstundenbudgetierung. Dieser Zustand ist bedingt durch die strukturellen Rahmenbedingungen der traditionellen Handwerksberufe in Lüchow-Dannenberg. Bereits mein Vorgänger musste in seiner Amtszeit Berufe wie z.B. die Maler und Lackierer, den gesamten Gastronomiebereich und die Bankklassen an benachbarte Schulstandorte Uelzen und Lüneburg abgeben. In der Metalltechnik, Lebensmitteltechnik und im Friseurbereich wurde mit der Einrichtung von Berufsfachschulen an Modell geschaffen, das sich aus meiner Sicht bewährt hat und auch für andere Berufe übertragbar sein könnte. Ich versuche die noch vorgehaltenen auch kleinen Berufsgruppen möglichst zu halten, um eine Standortnahe Beschulung zu ermöglichen. Dies ist durchaus nicht leicht und hat Auswirkungen auf die Personalplanung.
GA: Sie reagieren mit neuen Berufsbildern auf die spezifischen Anforderungen im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Welche Berufe sind das?
Ilka Burkhardt-Liebig: Um insbesondere den Realschulabsolventinnen und -absolventen attraktive Alternativen anzubieten, wenn es nicht gelungen ist, eine duale Berufsausbildung aufzunehmen, wurden zwei neue Berufsfachschulen eingeführt, die Familienpflege, die zur „Staatlich geprüften Familienpflegerin" führt und den „Technischen Assistenten für Nachwachsende Rohstoffe" (kurz NAWARO). Beide Berufe wenden sich an junge Frauen und Männer mit Realschulabschluss und berücksichtigen gezielt die besonderen Bedingungen des Landkreises: zum einen den demografischen Wandel und den Wunsch vieler älterer Mitbürger, so lange wie möglich im häuslichen Umfeld zu verbleiben und Serviceleistungen im Bereich Hauswirtschaft, Grundpflege und alltäglicher Lebensbewältigung zu erhalten. Die zukünftigen Familienpfleger agieren neben den speziellen Pflegefachkräften bzw. ergänzen die ambulanten Teams aus Krankenpflege, Altenpflege um den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung und Alltagsassistenz.
Der Technische Assistent für nachwachsende Rohstoffe wird in Niedersachsen gegenwärtig nur in einem Modellversuch in Gifhorn ausgebildet. Da der Landkreis Lüchow-Dannenberg sich aber gerade die nachwachsenden Rohstoffe und erneuerbaren Energien auf die Fahne geschrieben hat, schien es mir sinnvoll zu sein, diese Ausbildung bereits in der Phase des Modellversuchs in den Landkreis zu holen. Dies ist auch gelungen, und eine große Anzahl von Betrieben unterstützt die BBS durch die Bereitstellung von Praktikumsstellen, die im Rahmen der Ausbildung erforderlich sind. Gleichzeitig kann der Fachhochschulreifeabschluss erworben werden, der wiederum auch den Weg freigibt in die Fachhochschulebene und in Bachelor- und später Masterstudiengänge an Universitäten.
Die Anzahl der Bewerbungen für beide Schulformen mit gut 25 bis 30 Bewerbern macht den Bedarf auf Seiten der Realschulabsolventinnen und -absolventen deutlich.
GA: Was müssten die hiesigen Ausbildungsbetriebe tun, um den Ausbildungsschulstandort Lüchow-Dannenberg zu stärken?
Ilka Burkhardt-Liebig: Die hiesigen Ausbildungsbetriebe insbesondere in den noch geführten Berufsfeldern der Ernährung (Bäcker und Fleischer), Bautechnik, Holztechnik, Metalltechnik, Fahrzeugtechnik, Körperpflege und Wirtschaft müssten möglichst auch über ihren eigenen derzeitigen Bedarf hinaus ausbilden, wenn dem vorausgesagten Fachkräftemangel in Deutschland entgegengewirkt werden soll und Lücken durch die folgenden geringeren Schülerzahlen aufgefangen werden sollen.
In den Bereichen, in denen es bereits jetzt eine Berufsfachschule als Ersatz für das erste Lehrjahr gibt, müssten die Betriebe diese Ausbildung freiwillig anrechnen auf die Ausbildung, um in kürzerer Zeit mehr Jugendlichen die Chance einer Berufsausbildung zukommen zu lassen. Jeder Betrieb, der 2 Jahre anstelle von drei Jahren ausbildet, steigert die Chance für nachfolgende Jugendliche, in den Beruf zu kommen!
GA: Umgekehrt gefragt: Wie könnte die Berufsschule den Firmen dabei helfen?
Ilka Burkhardt-Liebig: Die Aufgabe der BBS ist es meiner Meinung nach, den Betrieben über die Leitstelle Region des Lernens, die neu an den BBS Lüchow eingerichtet wird, einen guten Übergang von den allgemeinbildenden Schulen in den Beruf, aber auch nach der Berufsausbildung in den Beruf zu ermöglichen. Ein enger Kontakt zwischen BBS und Betrieben ist hierzu erforderlich, eine Abstimmung der Anforderungen in der Berufsausbildung mit den Kompetenzen der Jugendlichen und eine noch bessere Berufsorientierung durch Kooperation der BBS mit den allgemeinbildenden Schulen steht dabei im Mittelpunkt.
GA: Welche Veränderungen plant das Land? (Stichwort Eckpunktepapier)
Ilka Burkhardt-Liebig: In dem sog. Eckpunktepapier wurden bereits im letzten Jahr einschneidende Veränderungen der beruflichen Bildung heiß diskutiert: wesentliche Veränderung ist der Wegfall der Anrechnungsverordnung in Deutschland. Das um 1977 eingeführte BGJ mit Anrechnungspflicht entfällt ab 2009. Damit entfällt auch das BGJ als Schulform. An diese Stelle sollen Berufsfachschulen mit freiwilliger Anrechnung durch die Betriebe treten. Der Zuschnitt der Berufsfachschulen stellt sicher, dass die Inhalte des ersten Lehrjahres der Lehrberufe abgedeckt und über eine Prüfung sicher gestellt werden.
Für die vielen kleinen Berufsgruppen im Landkreis Lüchow-Dannenberg heißt das aber, dass an den BBS entweder nur dual ausgebildet werden kann oder eine Berufsfachschulklasse geführt werden kann. Beide Formen können zukünftig nicht mehr zusammen beschult werden.
Es ist Aufgabe des Schulträgers und der BBS Lüchow, mit den ausbildenden Betrieben in der Region auszuhandeln, wie die Beschulung aussehen soll und dies auch mit benachbarten Schulträgern abzustimmen. Für unsere BBS wird das die sog. Nagelprobe sein, ob die Betriebe in Lüchow-Dannenberg auch zur BBS Lüchow stehen, oder ob sie insbesondere in den Berufen Fleischer, Bäcker, Zimmerer, Tischler, Maurer und Friseure Lehrverträge im ersten Lehrjahr abschließen und ihre Auszubildenden damit zu den Schulstandorten Uelzen oder Lüneburg schicken müssen.
Nach unseren Erfahrungen der letzten Jahre und den Vorgaben des Landes für zu bildende Klassengrößen in den Berufsschulen, aber auch den Berufsfachschulen, kann Lüchow-Dannenberg nur das Modell der . Berufsfachschule mit freiwilliger Anrechnung durch die Betriebe fahren.
Wir werden gleich nach der Einschulung mit den Gesprächen auf Schulträgerebene, mit den Kammern und Innungen und mit den Betrieben im Landkreis führen und hoffen natürlich - zuliebe der jungen Menschen unserer Region, dass die Betriebe zu uns halten werden.
GA: Das BGJ steht auf dem Prüfstand (Stichwort Berufseinstiegsklasse). Warum? Und was könnte darauf sinnvoll folgen?
Ilka Burkhardt-Liebig: Neben der Aufhebung des flächendeckenden BGJ und der Schaffung von Berufsfachschulen mit freiwilliger Anrechnung wird bereits in diesem Schuljahr im Schulgesetz eine neue Ebene in den berufsbildenden Schulen eingezogen: die Berufseinstiegsschule mit den beiden Schulformen BVJ (wie bisher für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf und ohne Schulabschluss) sowie einer Berufseinstiegsklasse (BEK) für Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss bzw. im Einzelfall mit schwachem Hauptschulabschluss. Ziel soll der Erwerb des Hauptschulabschlusses sein bzw. die Verbesserung eines schwachen Hauptschulabschlusses.
Da diese BEK aber ähnlich eng im beruflichen Profil geschnitten werden soll wie die darauf aufbauende Berufsfachschule, werden wir an den BBS Lüchow wahrscheinlich nur ein oder zwei Klassen in den Berufsbereichen führen können, in denen ggf. eine Verbesserung der Berufsreife auch zu einer Lehre oder einem erfolgreichen Besuch der Berufsfachschule führen kann.
Schülerinnen und Schüler, die die Ziele einer Berufsfachschule nicht erreichen können, obwohl sie formell den erforderlichen Hauptschulabschluss, aber doch nicht die erforderlichen Kompetenzen mitbringen, können nach Planung des Landes dann in eine BEK zurückgestuft werden.
Wenn die BBS Lüchow diese Schulform aber nicht vorhalten kann aufgrund zu geringer Schülerzahlen, werden die Schülerinnen und Schüler an andere Schulstandorte (Uelzen oder Lüneburg) überwiesen werden müssen.
Aus Sicht der BBS Lüchow ist es daher dringend erforderlich, den Diskurs mit allen Förder- und Hauptschulen im Landkreis zu führen und gemeinsam für die Qualität der Abschlüsse zu sorgen. Wünschenswert wäre es, wenn eine BEK gar nicht erst geführt werden müsste und durch frühzeitige gemeinsame Beschulungen und enge Kooperation der BBS mit den allgemeinbildenden Schulen der Übergang gezielt gestaltet wird. Modell dafür gibt es bereits in Niedersachsen, wie z.B. die gemeinsame Beschulung von Klassen der Hauptschule mit der BBS in Neustadt a. Rübenberge.
Den Schülerinnen und Schülern ist aus Erfahrung diese Modellversuche nicht damit gedient, dass sie die 9. oder 10. Klasse mehrfach besuchen, sondern durch sehr enge Verzahnung und den Unterricht durch Lehrkräfte beider Schulformen (Hauptschule und BBS) in kürzerer Zeit zur Berufsreife geführt werden.
Auch Kooperationen über die gemeinsame Gestaltung der Praxistage können ein Schritt auf diesem Weg sein. Die BBS Lüchow und die Jeetzelschule Lüchow wollen in diesem Schuljahr eine 8 Klasse der Hauptschule in den Werkstätten der BBS durch eine an die Hauptschule abgeordnete Lehrkraft aus dem Ernährungsbereich beschulen und Erfahrungen sammeln.
GA: Welche Bereiche machen Ihnen besonders Sorge? (Stichwort Bäcker/Fleischer). Wie kann man sinnvoll auf die geänderten Anforderungen reagieren?
Ilka Burkhardt-Liebig: Wie bereits mehrfach erwähnt, ist der Ernährungsbereich unser Sorgenkind. Es gibt zu wenig Auszubildende in diesen Berufen - manchmal sogar bei freien Ausbildungsplätzen. Beide Berufe sind aus unserer Sicht für eine Region wie unsere sehr wichtig - und trotzdem gelten die Berufe nicht als attraktiv. Dabei weiß jeder, dass jede Berufsausbildung ein Sprungbrett für weitere Berufskarrieren sein kann. Hier wünschen wir uns eine besondere Unterstützung auch der Betriebe vor Ort. Die vorhandene Berufsfachschule Lebensmitteltechnik muss im Niveau die Anforderungen der Betriebe an ein erstes Lehrjahr abdecken - ggf. ist es hier erforderlich, eine Berufseinstiegsklasse vorzuschalten, um den Erfolg in der BFS und im Beruf zu sichern.
GA: Können Sie uns ein Statement zum Thema „Anschlussfähigkeit der Schüler" geben?
Ilka Burkhardt-Liebig: Wie überall sind auch im Schulwesen Qualitätsprobleme auch Schnittstellenprobleme. Die Übergänge zwischen den allgemeinbildenden Schulen und dem Berufsbildenden Schulen bzw. dem Beruf muss noch viel enger gestaltet werden, die unterschiedlichen Anforderungen besser aufeinander abgestimmt werden.
Dazu braucht es aber auch an allen Schulen einer Lernumwelt, die für das Lernen förderlich ist. Heute kann nicht mehr erwartet werden, dass in einem großen Klassenverband alle Schülerinnen und Schüler mit einem frontal unterrichtenden Lehrer lernen können. Die Welten der jungen Menschen haben sich verändert - wie auch die Anforderungen der Wirtschaft nach Schlüsselkompetenzen und selbstständigem Lernen in einer Welt des schnellen Wandels auch der Lerninhalte.
Hier bedarf es meiner Ansicht nach sog. Runder Bildungstische Schule - Wirtschaft und gemeinsame Klärung der Probleme. Zuschreibungen über nicht mehr vorhandene Kompetenzen alleine helfen hier gar nicht.
GA: Was passiert mit den Hauptschülern? Wie ist es mit der Schlüsselkompetenz „Lesen" (und dem richtigen Verstehen des Gelesenen) bestellt?
Ilka Burkhardt-Liebig: Das ist nach meinen Erfahrungen von rund 20 Jahren Unterrichtserfahrung, unterbrochen von 15 Jahren Schulaufsicht und nunmehr wieder auch Unterrichtstätigkeit ein heißes Eisen. Mir kommt es bei den Schülerinnen und Schülern mit Hauptschulabschluss, die ich unterrichtet habe, oft so vor, als haben sie zwar gelernt, zu lesen und Fragen sowie Textstellen zuordnen zu können, wenn es ein passendes Schlüsselwort im Text und in der Frage gibt - Textverständnis, sinnentnehmendes Lesen scheint aber ein Problem zu sein.
Da sinnentnehmendes Lesen aber eine der wesentlichen Schlüsselkompetenzen für Berufsreife darstellt, versagen die Schülerinnen und Schüler nicht nur im Fach Deutsch, sondern in nahezu allen Fächern und Lernfeldern mit theoretischen Inhalten.
Ich glaube, es wird Zeit, diesesPhänomen näher zu beleuchten und im Austausch zwischen den Lehrkräften aus allen Schulformen, einschließlich der Grundschule, aufzuarbeiten und Strategien zu entwickeln, hier gegenzusteuern.
Nicht umsonst führen alle einschlägigen Untersuchungen über Berufsreife sowohl die Berufswahlreife, d.h., die Fähigkeit, seine eigenen Kompetenzen und Neigungen richtig einschätzen zu können und passende Berufswahlen treffen zu können als auch die für die Berufsausbildung erforderliche Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen an Erfolgsfaktoren an.
GA: Welche neuen Wege sollten beschritten werden? (Stichwort „Aus Einzellehrern Teams formen")
Ilka Burkhardt-Liebig: Ergebnisse von Bildung können nur durch Handeln in den Kernprozessen von Schule, nämlich Bildung und Unterricht verändert werden. Gute Rahmenbedingungen für Lehr- und Lernprozesse gehören selbstverständlich auch dazu, sie sind aber nicht alles.
In der pädagogischen Forschung über Schulentwicklung, wie auch in der freien Wirtschaft, verspricht man sich eine bessere Leistung insgesamt durch die enge Zusammenarbeit im Team. Für Schule ist das nicht so selbstverständlich. Der Unterricht ist bisher stark auf Einzelkämpfertum ausgerichtet gewesen. Zeit für kollegiale Beratung und gegenseitige Hospitation im Unterricht ist nicht eingeplant. Für gemeinsame Unterrichtsplanung fehlen Zeit und Arbeitsplätze. Und doch gibt es bereits an vielen Schulen organisatorische Umgestaltungen zur konsequenten Teamstruktur mit Verantwortlichkeit eines Lehrerteams für einen Bildungsgang oder eine Klasse, auf jeden Fall für ein gemeinsam in allen Bereichen der Entwicklung der Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz der Schülerinnen und Schüler.
Ich bin fest davon überzeugt, dass in Berufsbildenden Schulen diese Verantwortung für das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit im Lehrerteam und das gemeinsame Ringen um erforderliche Veränderungen, wenn die Ergebnisse schlechter werden gemessen an den Landeskenn-zahlen, eine wesentliche Aufgabe von Schulentwicklung ist. Schule hat aber auch die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen durch Strukturveränderungen, Qualifizierungen und insgesamt verändertes Lernen und Arbeiten in Schule gemeinsam mit den mitwirkenden Betrieben zu erwirken.
GA: Vielen Dank für das Gespräch!