Ricardo Spindler besucht seit diesem Schuljahr das Holzzentrum der BBS Lüchow. Er gehört zum ersten Jahrgang der Tischler, die selbstorganisiert lernen.Foto: D. Muchow
Selbstorganisierte Berufsschüler
VON DANIELA MUCHOW
Die BBS Lüchow setzen auf ein innovatives Lernkonzept – Wie das Schülerinnen und Schüler finden und welche Rolle Lehrer dabei spielen
Lüchow. Tschüss Frontalunterricht, hallo Lerninsel: An den Berufsbildenden Schulen (BBS) geht man neue Wege bei der Vermittlung der Inhalte. Den Auftakt hat das Team des Holzzentrums am Schuljahresbeginn gemacht. Die angehenden Tischler im ersten Lehrjahr, das in Vollzeit in der Schule stattfindet, arbeiten als Erste nach dem System des selbstorganisierten Lernens (SOL). Der Name ist Programm.
Der 17-jährige Ricardo Spindler schätzt an der Unterrichtsweise, dass sie ihn zum Lernen motiviert. Auch, weil man sich individuell Zeit für ein Thema nehmen könne, erklärt er. Allerdings sei es am Anfang schwierig gewesen, die eigene Struktur zu finden. Aber „mittlerweile bekomme ich den Stoff in den Griff“, sagt er. Dass bisher alle in der Klasse zeitgleich an der gleichen Sache arbeiten mussten, betrachtet auch der 19-jährige Anton Koopmann als Defizit, welches das Holzzentrum überwunden habe. Er sei durch die Vorbereitung auf das Abitur schon ans eigenständige Lernen gewöhnt und konnte mit Beginn der Ausbildung „quasi so weitermachen“. Dazu gebe es von den Lehrkräften „unglaublich viele Materialien“. Der Wunsch nach klassischem Unterricht werde jedoch auch erfüllt.
Lehrerin Kerstin Wohlfeil ist überzeugt, dass die jungen Menschen mit SOL besser zu Mitarbeitenden, die eigenverantwortlich agieren, ausgebildet werden können. Das komme auch den Erwartungen der Arbeitgeber entgegen. Für die Ausbilderin bedeutet die Umstellung auch, ein schlechtes Gewissen hinter sich zu lassen. Immer wieder habe sie im Zwiespalt unterrichtet, keinem der Schüler und Schülerinnen gerecht zu werden: „Du kannst sie im Klassenverbund nicht so beschulen, dass alle zufrieden sind.“ Das liege vor allem an den unterschiedlichen Niveaus, erklärt Wohlfeil. Die Schüler eines Jahrgangs können zwischen 16 und knapp 30 Jahren alt sein. Der Bildungshintergrund reiche dabei vom Hauptschulabschluss bis zum abgebrochenen Studium.
Lehrende werden zu Begleitenden
Jetzt gestalten die Lehrkräfte des Holzzentrums keinen Unterricht mehr, wie viele ihn noch aus der Schule kennen. Auch der Deutschunterricht wurde bereits umgestellt. Was bleibt: Morgens kommen alle zusammen. In einer Impulseinheit von circa 20 Minuten gibt es einen Rückgriff auf vorige Lerneinheiten und einen Check, was die Schüler und Schülerinnen brauchen. Lehrkräfte werden in diesem System von Lehrenden zu Begleitenden. In der Regel arbeiten die Jugendlichen in Gruppen. Manche entscheiden sich auch bewusst, alleine zu arbeiten, berichtet Kerstin Wohlfeil. Vorgabe bleibe selbstverständlich, dass die Berufsschule auf die schriftliche Gesellenprüfung vorbereitet. Am Ende jedes Lernfeldes – das erste Jahr besteht aus vier Feldern – gebe es Klausuren. Und bis dahin immer wieder sogenannte Gelingensnachweise, die den Wissensstand fixieren und die Lernziele überprüfen.
Erwartung und Ergebnis abgleichen
Dabei spielen Reflexionsbögen eine wesentliche Rolle. Damit können die jungen Menschen ihre Erwartungen und ihr tatsächliches Ergebnis abgleichen und daraus im besten Fall Schlüsse für ihr künftiges Lernverhalten ableiten. Mit Einführung des SOL seien die Notendurchschnitte der Klausuren nicht automatisch nach oben geschnellt, sagt Wohlfeil. Aber oft lägen Erwartung und Ergebnis beieinander.
„Das ist ein spannender Prozess. Da passiert etwas“, ist die Lehrerin überzeugt. Ihr Kollege Timon Kreth ergänzt, dass man mit SOL den Schritt gehe, von Anfang an alles daranzusetzen, dass die Azubis bis zum dritten Lehrjahr selbstständig seien. Er sieht den Vorteil darin, dass dies nun aus einer inneren und eigenen Motivation heraus geschehe: „Wir hatten immer das Gefühl, die sitzen hier mit Potenzial, aber konnten das nicht herauslassen.“
Warum haben die BBS den Unterricht nicht schon viel früher verändert? Das liege an einer gewissen „Systemträgheit“, erklärt Schulleiter Stefan Eilts. Alle hätten gelernt, dass man es so mache, wie es war. Jetzt hingegen „sind Freiräume eingeräumt“. Wie diese aussehen können, berichtet Kerstin Wohlfeil beispielhaft: Sie habe am Tag zuvor mit zwei Schülern intensiv zwei Stunden lang Mathematik geübt. „Das war vorher einfach nicht drin.“ Sie genieße die angenehme Stimmung, die in den verschiedenen Räumen des Holzzentrums herrsche. Was das Lehrteam nun noch benötige, sei eine Hilfe, einen besseren Überblick über Inhalte und individuelle Ziele zu erhalten. Die Schüler machen zu lassen und nicht einzugreifen, wenn jemand etwa lieber ausgiebig Pause mache anstatt zu lesen, sei auch noch ungewohnt, erklärt sie.
Aus drei Klassenräumen wird eine Lernlandschaft
Schulleiter Stefan Eilts hofft, dass sich das System SOL vom Holzzentrum aus auf die gesamten BBS ausweitet. „Das hier ist ein Flämmchen, das den Laden entzündet“, hofft er. Als Nächstes soll das selbstorganisierte Lernen in der Berufseinstiegsschule etabliert werden. Dazu werden im sogenannten Kubus an der Amtsfreiheit drei Klassenräume zu einer Lernlandschaft umgebaut. Möglich wird das durch das Start-Chancen-Programm (SCP) des Bundes und der Länder, das die Lüchower BBS bekanntlich über zehn Jahre lang mit Mitteln in sechsstelliger Höhe ausstattet (EJZ berichtete).
Die BBS haben in diesem Jahr bereits 20 Kollegen und Kolleginnen zum Thema Schülercoaching fortgebildet. Kostenpunkt: 5.000 Euro. Demnächst werde man für die gleiche Summe ein Resilienztraining mit Referenten der Uni Oldenburg für zwei Berufseinstiegsklassen umsetzen. Das soll den Jugendlichen helfen, besser mit Krisen und Stress umgehen zu können. Der Workshop werde in Kooperation mit der Kurve Wustrow und „Ein Ding der Möglichkeit“ in Salderatzen veranstaltet. Der Kurs solle bewusst nicht im Klassenraum stattfinden, erklärt der Schulleiter. Nur mithilfe des SCP „können wir jetzt auch so was machen“.
https://www.ejz.de/ 19.12.2025